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Leseprobe

Das kann man doch nicht wegwerfen

Früher verschwand nichts.

Fast nichts.

Nur das, was vergammelt oder unreparabel kaputt war. Alles andere landete in den obersten Fächern unserer Schränke oder in den unendlichen Höhlen unseres Dachbodens. Egal, ob es sich um zu klein gewordene Kleidchen, nicht mehr geliebtes Spielzeug oder angestoßene, längst ersetzte Milchkännchen handelte – meine Mutter hob alles auf. Immer begleitet von dem Satz „Das kann man doch nicht wegwerfen“. Wahrscheinlich ist dieser Satz eine Spätfolge aus Kriegszeiten, in denen die Generation meiner Mutter gelernt hatte, dass man mit kaputten Strumpfhosen, stehen gebliebenen Uhren, verbeulten Schüsseln und etwas Improvisation immer noch etwas besser dastand als ohne Strumpfhosen, Uhren und Schüsseln.

Zwei Jahrzehnte nach Kriegsende hatten die Tauschgeschäfte längst andere Dimensionen angenommen und man bezahlte mit Bargeld. Auch die Not, die sparsam gemacht hatte und Improvisationstalente aufblühen ließ, gab es nicht mehr. Langsam aber sicher wich sie der Freude am Wirtschaftswunder und den ersten Produktpflänzchen eines zart aufkeimenden Anflugs von Wohlstand. Nur meine Mutter konnte sich nicht darauf einstellen. Nicht ein ausrangiertes Möbelstück landete auf dem Sperrmüll, nicht ein ausgewachsenes Mäntelchen endete in der Kleidersammlung – alles blieb bei uns. Irgend ein Vorfahre, der vor hunderten von Jahren unser Haus gebaut hatte, musste geahnt haben, dass hier Generationen nach ihm eine Frau - meine Mutter – leben würde, die einen solchen Dachboden wie den unseren brauchte: Ausgestattet mit unzähligen Nischen und Kämmerchen.

Der Dachboden war für meinen Bruder und mich ein heimliches Paradies. Natürlich durften wir dort nicht spielen – schwer verboten! Offenbar hatten unsere Eltern Angst, dass wir das Haus abfackeln oder in den unergründlichen Tiefen von angesammeltem „Kann-Man-Doch-Nicht-Wegwerfen“ schlicht und einfach verloren gehen könnten: Man würde uns erst Wochen später wieder finden – zusammengekauert zwischen alten Vorhängen, umhüllt von einem millionenfädigen Kokon aus Spinnweben und von einer dicken Staubschicht bedeckt.

Über den besonderen Reiz, den Verbotenes ausübt, hatten meine Eltern bei ihrer strikten Anordnung offenbar nicht nachgedacht. Im Nachhinein ehrt sie das Vertrauen, das sie in uns setzten, nur – es war völlig fehl am Platz: Sobald beide das Grundstück verlassen hatten stiegen zwei kleine Menschen mit Abenteurerleuchten im Gesicht die zwei Treppen nach oben und kümmerten sich nicht mehr um so etwas Profanes wie Staub, Spinnen oder Motten. Wir bauten Gänge und Höhlen aus Hunderten von Kartons. Wir schlurften mit ausgetretenen Schuhen und zerschlissenen Mänteln über den Holzboden und fanden natürlich auch irgendwo einen blinden Spiegel, aus dem uns unheimliche Gestalten entgegenblickten.

Die Krönung aber war der Fund einer Kiste mit unzähligen kleinen geschliffenen Glasteilchen, die in den wenigen Sonnenstrahlen des Dachbodens leuchteten wie die Farben des Regenbogens. Wir legten sie auf dem ganzen Dachboden aus, in jedem noch so verborgenen Winkel. Der Schatz mit seinen magischen Kräften sollte überall seine Wunder vollbringen, überall wo wir hinkamen. Damals waren es die Perlen einer Zauberfee.

Heute weiß ich: Es war ein Kronleuchter.


Leider nahm es kein gutes Ende mit ihm. Als meine Eltern beschlossen hatten, ihn wieder zusammenzusetzen und aufarbeiten zu lassen, war er – weg. Die Kiste war leer. Meine Eltern suchten und suchten. Mal tauchte hier ein Glasteilchen auf, mal dort drei, dann noch mal zwei. Aber es muss ein sehr großer Kronleuchter gewesen sein. Und es gab sehr viele Kartons. Und viele Koffer, viele Manteltaschen, Porzellantassen, Stiefel.... es war unmöglich, alle Teile wieder zu finden.

Mein Bruder und ich beichteten notgedrungen. Wir bekamen eine angemessene Tracht Prügel. Meine Eltern hatten eine heftige Auseinandersetzung über das Aufheben von unnützen Dingen und Kindererziehung. Der Kronleuchter wurde nie wieder ein Kronleuchter.

Beim Einzug in meine erste eigene Wohnung schwor ich mir, nichts aufzuheben, dessen Verbleib nur durch den Satz „Das kann man doch nicht wegwerfen“ gerechtfertigt wäre.

Viele Jahre später – meine Eltern hatten sich getrennt, mein Vater war früh gestorben – starb auch meine Mutter. Ich räumte den Dachboden ihres Hauses auf, in dem sie zwei Jahrzehnte allein gelebt hatte. Und ich erkannte: Meine Mutter hatte noch immer nichts wegwerfen können. Ich fand unzählige verschimmelte Pferdetrensen, alte Decken, sehr, sehr viele Kartons und Verpackungen und sieben Kaffeemühlen.

Ich weiß heute noch nicht, warum ich mir die Mühe gemacht habe, mir jeden Gegenstand, jede Mappe, jeden Karton dieser erneuten Kann-man-doch-nicht-wegwerfen-Sammlung genau anzusehen. Aber ich habe tatsächlich einen Schatz gefunden:

Die ersten Liebesbriefe, die mein Vater an meine Mutter geschrieben hatte.

Es gibt tatsächlich Dinge, die kann man nicht wegwerfen.